In einer richtungsweisenden Entscheidung wurde am 2. Juli 2025 klargestellt, dass ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis grundsätzlich zum Stand der Technik gehört, selbst wenn die Materialzusammensetzung für die Fachpersonen nicht ohne unzumutbaren Aufwand analysiert oder reproduzierbar war.
Fallkonstellation
In dem zugrunde liegenden Fall ging es um ein Verkapselungssubstrat für eine Solarzelle, welches unter dem Handelsnamen ENGAGE 8400 verfügbar war. Die Materialzusammensetzung von ENGAGE 8400 wurde zunächst geheim gehalten. ENGAGE 8400 konnte durch sogenanntes „reverse Engineering“ nicht analysiert werden.
Nach der Markteinführung von ENGAGE 8400 wurde die Materialzusammensetzung von Mitsui Chemicals zum Patent angemeldet. Das europäische Patentamt erteilte zunächst das Patent für Mitsui Chemicals. Daraufhin wurde von der Borealis GmbH Einspruch eingelegt. Borealis verwies auf das kommerziell verfügbare Produkt und argumentierte, dass dieses gegenüber der nachträglichen Patentanmeldung neuheitsschädlich sei, unabhängig davon, wie schwer es sei, dieses zu analysieren oder zu reproduzieren.
Der Fall ging bis vor die Große Beschwerdekammer des europäischen Patentamts. Die große Beschwerdekammer folgte nun der Auffassung der Borealis GmbH. Das Einspruchsverfahren wird nun mit der Maßgabe fortgesetzt, dass das kommerziell verfügbare ENGAGE 8400 vollen Stand der Technik nach Art. 54(2) EPÜ für die später patentierte Materialzusammensetzung bildet.
Kommentierung
Der Fall hat beträchtliche Auswirkungen auf unsere Beratungspraxis hinsichtlich der Patentierung von neuen Werkstoffen, Beschichtungen, Polymeren und Spezialchemikalien.
Wir beraten häufig Mandanten in Fragen bezüglich der Markteinführung und Patentierbarkeit von Produktzusammensetzungen. Oft geht es dabei darum, gerade so viel zu offenbaren, dass die Erfindung für die Fachpersonen mit zumutbarem Aufwand nacharbeitbar ist (ausführbar im Sinne des Art. 83 EPÜ), zugleich aber ein gewisser Teil in der Firma als Know-How verbleibt.
Mit der vorliegenden Entscheidung wird nun klar, dass eine einmalig getroffene Entscheidung irreversibel ist: Ist das Produkt einmal im Markt, kann es nicht nachträglich noch durch Patentschutz abgesichert werden.
Aus unserer Sicht macht die Entscheidung Sinn, denn andernfalls würde ein Patentschutz beinahe beliebig erweiterbar sein, obwohl das Produkt schon im Markt ist.
Letztenendes muss bei jeder Neuentwicklung eine Abwägung erfolgen ob man im Gegenzug für die Bekanntmachung (Offenbarung) das Monopolrecht erhält oder ob man den Weg der Geheimhaltung geht. Hält man die Materialzusammensetzung geheim, dann besteht das Risiko, dass bei einem erfolgreichen reverse Engineering keine Unterlassung gefordert werden kann. Dabei ist reverse Engineering nicht die einzige Möglichkeit, dass die Materialzusammensetzung anderweitig bekannt wird. Man denke heutzutage auch an Datenleaks, Abwerbung von Arbeitnehmern durch die Konkurrenz und dgl.
8. September 2025
Thorsten Brüntjen
Patentanwalt